Warum es sich lohnen kann, auch mal komplett neben der Spur zu laufen

 

Ich war die längste Zeit meines Lebens eine, die völlig automatisiert Regeln befolgte. Eine, die schon als Kind beim Mensch-ärger-Dich-nicht nicht wirklich zum Schummeln geboren war (und Pokern daher später nie als Option hatte). Eine, die als Jugendliche (mit zwei linken Füßen) zur Tanzschule und dann auch zur Firmung marschierte, einfach, weil das alle so machten (obwohl die Füße viel lieber in Wanderschuhen im Wald rumgelaufen wären). Eine, die auch heute noch manchmal unwillkürlich nachts an der roten Ampel stehen bleibt und auf Grün wartet, obwohl weder Autos noch kleine Kinder in Sicht sind. Ich denke da gar nicht drüber nach, es ist wie ein Schalter: Regel = folgen. Ist so. Muss so. Passiert einfach.

 

Daher war es ein ganz schöner Akt für mich, für meine Kinder und gemeinsam mit meinen Kindern aus dem Schulsystem und damit DEM großen Zubringer des gesellschaftlichen Regelsystems auszubrechen. Schon die eigene Begriffsstutzigkeit zu überwinden, dass das, was alle machen, nicht automatisch der einzig zielführende Weg ist, war eine ziemlich hohe Hürde.

 

Im eigenen Kopf. Und da hatte ich noch keine einzige in der Außenwelt genommen.

 

„Zielführend“ - was soll das überhaupt bedeuten? Gesamtgesellschaftlich betrachtet: Alle auf einem Weg, planiert und asphaltiert, sicher mit Geländern - mitunter auch mal Stacheldraht - eingefasst, damit auch ja keiner abweicht. Der ganze Menschenstrom kollektiv in eine Richtung gelenkt. So kommt mir unser gesellschaftliches System inklusive Schulsystem manchmal vor. Abweichungen existieren nicht, noch nicht einmal in der Phantasie …

 

 

Sieht idyllisch aus? Aber auch ganz schön gerade, leer und überschaubar ...

 

Immer wieder wird uns gegenüber momentan zum Beispiel von den verschiedensten Stellen aus Erstaunen geäußert, dass unser ältester Sohn Janko nicht zur Schule geht, keine reguläre Ausbildung macht und auch nicht studiert oder zumindest irgend etwas davon anstrebt.

 

Die Krankenkassenmitarbeiterin wundert sich sehr und wünscht „eine erfolgreiche und zügige Orientierungsphase“.

Die Sparkasse kann ihm so keine Verbilligung bei den Kontoführungsgebühren einräumen. Der junge Mitarbeiter in seinem krawattendekorierten Anzug ist aber extrem fasziniert von Jankos momentaner Tätigkeit als Industriekletterer („Wie kommt man denn zu so etwas? Immer schon gerne geklettert?“ - „Nein, der Job kam spontan und die Seil- und Sicherungstechniken hab' ich dafür einfach gelernt.“).

Die Kindergeldkasse zahlt sowieso schon nicht mehr seit dem 18. Geburtstag, ab welchem Kindergeld nur noch von total regulärem Ausbildungsnachweis abhängig ist. Ebenso alle Arten von Fahrkarten oder Eintritten: Schüler, Auszubildende und Studenten preiswerter – gibt es echt keine anderen jungen Menschen?

 

Was passiert wohl, wenn man sich diesem Diktat unterwirft, obwohl man schon eine leise Ahnung hat, dass das eventuell nicht der Weg ist, der für einen selbst passt?

 

Diese Erfahrung durfte ich selbst als Jugendliche machen, als sich mein Traum, Tierärztin zu werden, aus verschiedenen Gründen zerschlug und ich relativ aufgeschmissen daraufhin ins BIZ (Berufsinformationszentrum – gibt's das eigentlich noch?) fuhr und mich stundenlang durch echt öde, trockene Kataloge und Kataloge und Kataloge an Studien- und Ausbildungsberufen las, um mich schließlich für ein Studium der Sozialarbeit zu entscheiden.

 

Eine Kopfentscheidung. Schien mir das kleinste Übel aus den vorhandenen Möglichkeiten (war tatsächlich auch ganz interessant, nur vielleicht nicht sonderlich geeignet für jemanden, der nicht so wirklich wie selbstverständlich mit Menschen kann ...). Aber irgend etwas musste halt nahtlos anschließen.

 

Mehr als eineinhalb Jahrzehnte später, als ich mich kurze Zeit in dem Job probiert hatte und tatsächlich – oh Wunder!  - feststellte, dass er nicht wirklich etwas für mich war, begab ich mich endlich zurück auf den Weg meiner wirklichen Neigungen und Interessen und machte eine Ausbildung als Hundephysiotherapeutin (durchaus kein BIZ-Katalog-Beruf!).

 

Dass mein Gesundheitszustand diese Tätigkeit nicht lange zulassen würde und das Freilerner-Leben zusätzlich eine ortsunabhängige Tätigkeit notwendig machen würde, wusste ich damals noch nicht. Aber es führte über manch krumme Wege dazu, dass aus meiner leider allzu kurzen Selbständigkeit als Hundephysiotherapeutin nach einer erneuten Orientierungsphase jetzt gerade eine Selbständigkeit als Korrektorin, Lektorin, Texterin wird, bei welcher ich eine weitere Leidenschaft mit den momentanen Bedürfnissen unserer Familie verbinden kann. Ob das etwas für immer sein wird, weiß ich heute noch nicht. Das ist auch heute nicht wichtig, weil es genau heute einfach genau so passt. Wer weiß schon, was morgen sein wird? (Okay, gerne ein längerfristiges „Morgen“, sagen wir von zehn, fünfzehn Jahren, denn sooo witzig ist die ganze Prozedur rund um den ganzen rechtlich-theoretischen Kram, um sich selbständig zu machen, wirklich nicht.)

 

"Zielführend"? ... Durch dieses von klein auf „in-Spur-Lenken“ verschleiert sich einfach der Blick für alles Weitere, was möglich sein könnte. Scheuklappensehen. Und Spurrillendenken.

 

Man hält sich an begrenzenden Geländern, die bestenfalls eine Art Sicherheit vorgaukeln, die sie aber meist schon gar nicht mehr bieten können. Dabei ist es ein so befreiendes Gefühl, die Geländer loszulassen, den Blick einmal vom ausgetretenen Boden zu heben und ihn schweifen zu lassen in die Weite. Und vielleicht auch ganz besonders einmal in sich hinein.

 

Und dann einen ersten Schritt zu tun in eine ganz neue Richtung. Klar, dass einem dabei auch mal schwindelig werden kann. Dann würde man sich doch allzu gerne irgendwo abstützen, sucht einen Halt, der doch in altbekannter Form so nicht mehr existiert, sucht einen Pfad, den man selbst aber erst bahnen muss.

 

Das kann enorm verwirrend, sogar beängstigend und auch schmerzhaft sein und doch wohnt diesem neuen Gehen eine Intensität und mentale Weitung inne, die man, wenn man nach dem ersten Schrecken dann wieder in der Lage dazu ist, freudig feiern darf.

 

Und lernen kann, die sich neu auftuenden Perspektiven allmählich zu genießen.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Tina (Freitag, 15 September 2017 23:13)

    Ein grosses Dankeschön für die erneute Horizonterweiterung! Du bist auf dem richtigen Weg, hör nicht auf der Unken Gequake!

  • #2

    #feelfreetobefree (Samstag, 16 September 2017 08:18)

    Ein großes Dankeschön zurück für Deinen unterstützenden Kommentar, liebe Tina. "Der Unken Gequake" - haha, poetischer hätte ich das wirklich nicht formulieren können ;)