Begegnungen in Apulien 2 - Luke, mitten ins Herz geschlüpft

Apulien am frühen Nachmittag, es regnet ein wenig. Erleichtert parke ich das Wohnmobil (direkt neben einem Campingplatz ;) ), nachdem ich es mal wieder nicht geschafft habe, auf einem innerörtlichen Parkplatz zu halten. Alberobello, das UNESCO-Weltkulturerbe Städtchen der Trulli, eins von zwei Städtchen in Apulien, die ich mir hier unten gerne anschauen möchte. Über 1000 der malerischen Zipfelmützenhäuschen soll es allein hier im Ort geben. Gestern haben wir einen schönen Tag bei Ramona und Vito auf dem Land verbracht, heute sollte dann mal ein bisschen Kultur dran sein. Mal wieder habe ich mich blindlings auf unser Navi verlassen, das mir dann auch - wie so häufig etwas zeitverzögert - ansagt, dass wir soeben unser Ziel (im WoMo-Führer empfohlene Parkplätze am Ortsrand) erreicht hätten. Tatsache - ich sehe sie sogar noch, in einiger Entfernung beim Blick über die rechte Schulter, alle besetzt, hinter uns hupt es bereits wieder, ich kann nicht mehr zurück, ciao, ciao Parkplätze...

Hmm, und jetzt? Ah, da sollte es noch so einen Wanderparkplatz geben, zum freien Übernachten bestimmt eh besser geeignet. Eine staubige Einfahrt ermöglicht uns, die Autoschlange vorbeizulassen und das nächste Ziel einzugeben, und wir haben sogar Glück, es heisst nicht: "Wenn möglich, wenden Sie!", sondern ich darf auf dieser Route weiterfahren. Sagt Navi. Puh, das Sträßchen wird aber doch ein wenig eng, naja, soll nicht mehr weit sein. VERD........ GEGENVERKEHR - ich steig erst mal auf die Bremse. Hmm, jetzt macht der Zeichen, dass er in die Straße, deren Einmündung wir soeben rechts passiert haben, einbiegen will. Das Beste wird sein, ich  setze nochmal zurück bis hinter die Einmündung, damit er durch kann. Rückfahrkamera? - "Nöö, heute nicht", meint die, der Bildschirm bleibt schwarz. Na gut, dann eben ohne, Hauptsache, der ungeduldige Signor kann endlich abbiegen. Geschafft, erleichtert strahle ich den Fahrer des Lasters an, der schaut mich verständnislos an, wedelt mit der Hand: "scheuch, scheuch, ab jetzt, rein da", wird energischer, zielt mit der Hand mehrfach nach geradeaus - "Oh, shit! ICH hätte in die Einmündung ausweichen sollen, er will an mir vorbei. Äh, kleines Mißverständnis der Herr, scusi, scusi!" Stotternd in die Einmündung ausgewichen, ich kann das Kopfschütteln des an mir vorbeibrausenden Fahrers förmlich spüren. Ein paar hundert Meter weiter kündigt unser Navi dann wieder an, dass wir unser Ziel erreicht hätten. UND WIEDER NACHTRÄGLICH - BINGO! Schon wieder sehe ich im Rückspiegel unser Ziel liegen. Sach mal, das darf doch wohl nicht wahr sein! Rase ich so mit unserer alten Möhre, dass das Navi es nicht rechtzeitig gepeilt bekommt oder ist einfach sein Arbeitsspeicher überlastet? Glücklicherweise finde ich diesmal nach kurzer Zeit eine Wendemöglichkeit und kann endlich korrekt halten. Wie weit das hier jetzt wohl vom Städtchen entfernt sein mag? Vielleicht laufe ich da später einfach mal hin.

Erst mal sind die Hundis jetzt dran. Die Kids machen es sich im Mobil gemütlich und ich schnappe mir unsere beiden Fellnasen, hier am "Bosco Selva", einem geschützten Eichenwaldgebiet, sollte das Spazierengehen kein Problem sein. Ist es auch nicht und wir drei genießen trotz Nieselwetters die Runde. Als ich zurück komme, werde ich aufgeregt begrüßt: "Mama, da lief gerade ein Hund rum, der ist ganz dünn."

Tja, das kann sein, denn auch wenn uns bisher erst ein einziger Streuner an einem Strand bei Monopoli begegnet ist, der sich anscheinend mit einem Fischer angefreundet hatte und tagsüber immer an dessen Seite war, hin und wieder fiel mal eine Streicheleinheit und ein Fisch für ihn ab und er sah kräftig und fit aus, so soll es doch in Süditalien wie in vielen süd- und osteuropäischen Ländern ein Streunerproblem geben (wovon auch die zahlreichen totgefahrenen Hunde und Katzen an den größeren Landstraße zeugen). Ramona hatte uns am Vortag erzählt, dass die Straßenhunde sehr schlau seien und hinter den malerischen Naturstein-Mauern in Deckung gingen, häufig würde man so gar nicht mitbekommen, dass man gerade durch eine ganze Hundeansammlung führe.

 

Nun ist da aber dieser eine kleine, total ausgemergelte Bretone, nass, dreckig, er hatte sichtlich schon länger nicht mehr ausreichend gefuttert. Das können wir ändern, denn ich hatte extra einen Sack Futter für Straßenhundkontakte dabei. Flugs ein bisschen hingeschüttet und mich wieder entfernt, damit er in Ruhe fressen kann. Später hocke ich mich in einigen Metern Entfernung mit ihm abgewandten Gesicht an die Mauer, woraufhin er vorsichtig näher kommt und an meinen Händen schnuppert. Irgendwie hat er einen ganz eigenartigen Gesichtsausdruck, sein Nasenrücken sieht eingedellt aus und weist ein, zwei runde oberflächliche Wunden auf. Rippen, Wirbel und Beckenknochen sind mehr als überdeutlich zu erkennen. Der arme Kerl!

Wir essen dann auch erstmal etwas, die Hunde bekommen ihr Futter, als auf einmal der Regen zu prasseln anfängt. Besorgt schauen die Kinder immer wieder nach unserem Schützling, der nach dem Fressen und der ersten Kontaktaufnahme zur Brunnensäule gelaufen ist, um zu trinken und es sich anschließend unter einem Busch im weichen Gras auf dem Wanderparkplatz bequem macht. Eine Weile mag der Busch den Regen aufgehalten haben, doch der wird stärker und stärker. Irgendwann steht der kleine Streuner auf und streift an den Mauern entlang, sucht sichtlich nach einem trockenen Plätzchen, das aber längst nirgends mehr zu finden ist. Das Kerlchen tut uns so leid, wie er da herumirrt. Ich denke, wenn er nur zum Wohnmobil käme, ein trockenes Plätzchen könnten wir ihm noch anbieten. Es dauert nicht lange und er kommt tatsächlich in unsere Richtung. Ich öffne die Wohnmobiltür, er steht direkt davor und schaute mich vorsichtig an. Mit viel Geduld und einigen Stückchen gekochter Kartoffel gelingt es, ihn ins Wohnmobil zu locken. Noly schläft in ihrer - sicherheitshalber mal geschlossenen - Box, Marbo liegt auf seinem Plätzchen auf der Sitzbank, Mia sicherheitshalber neben ihm, eine Hand am Hundegeschirr. Unser Kleiner ist mächtig eifersüchtig und extrem irritiert über den fremden Gast.

Der Regen lässt den Rest des Tages nicht wesentlich nach, so dass wir beschließen, dass Luke, so hat Jakob den Kleinen genannt, bei uns die Nacht im Trockenen verbringen dürfe, wenn er wolle. Unsere Schlafplätze werden neu verteilt (Marbo darf mit ins große Bett, jippiiee :D ) und alles mit einem Zwischengitter fremdhundekompatibel geregelt, so dass unsere beiden dem kleinen Gast nicht nahe kommen können. Luke verschläft den größten Teil der Nacht auf dem Hundekissen, das er sich mit viel Gezupfe und Gejaule zurechtgelegt hat (tatsächlich wirkt er psychisch ziemlich angeschlagen, aber wen wundert das ernsthaft bei so einem Schicksal?).

Zwischenzeitlich haben wir trotz meiner unzuverlässigen Handyverbindung von Ramona eine eventuelle Unterbringungsmöglichkeit für unser Findelkind erfahren, denn es ist leider klar, dass wir ihn nicht selbst mitnehmen können. Impftechnisch reicht die Zeit bis zu unserer Abreise nicht aus und ich habe das (vernünftige!) Verbot von zuhause im Gepäck, mit mehr Hunden wiederzukommen als ich losgefahren bin ;). Ich selbst bin durch die Reiserei nervlich gerade ziemlich an meine Grenzen gekommen, kann nicht mehr viel verkraften und möchte  unsere Hunde auch keinem Krankheitsrisiko aussetzen, denke ich bei den runden offenen Hautstellen doch auch an Leishmaniose.

Der nächste Morgen beginnt ziemlich früh gegen 5:30 Uhr, da Luke im Fahrerraum umherkriecht, weil er auf seinen Schlafplatz geköttelt hat. Ich öffne die Wohnmobiltür (immerhin: Kein Regen!), schüttle die Decke ab und hänge sie nach draussen (später haben wir sie im Meer gewaschen, das sollte alles gut desinfiziert haben). Luke verabschiedet sich auch nach draußen, geht am Brunnen trinken, was ich dazu nutze, flugs mit unseren Hundis aus dem Wohnmobil zu schlüpfen und kurz Gassi zu gehen. Dann mit drei Hunden wieder rein ins Wohnmobil, alle wieder verteilt und ein bischen gelesen bis die Kinder aufwachen. Zwischendurch halte ich innere Zwiesprache mit dem Kleinen, dass wir ihn leider, leider nicht mitnehmen , ihn aber zu einem Canile bringen könnten, wo er zumindest sicher, trocken und satt sein würde. Ein blöder Gedanke, denn häufig kommen die Hunde dort nicht wieder raus und ich überlege, ihn dort nur übergangsweise zu "parken" und ihn dann eventuell in einigen Wochen nach erfolgter Impfung zu holen. Wie ich das meinem Mann und unseren beiden Seniorhunden, die nach jahrelangen wechselnden Tierschutz-Neuzugängen bei uns zuhause in einem Stadium angekommen sind, in dem sie wirklich keine weiteren Neuzugänge mehr wollen, hätte erklären sollen, weiß ich jedoch nicht. Ohnehin leben wir ja gerade ziemlich unruhig, nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt für eine weitere zu versorgende Notnase.

Luke jedoch hat wohl sowieso anders entschieden, da er später nach der Fütterung nicht wieder aufgetaucht ist.

Schweren Herzens fuhren wir wie geplant noch einmal zum Meer, ließen ihm natürlich Futter dort. Allerdings haben wir es dann nicht über's Herz gebracht, nach zwei schönen, sonnigen Tagen am Meer unsere Reise noch zur Westküste Apuliens hin auszudehnen, sondern fuhren stattdessen wieder zurück zum Wanderparkplatz, um Luke vielleicht doch noch einsammeln zu können. Er ließ sich auch kurz füttern und von den Kindern ganz kurz streicheln, kam auf Abstand ein Stückchen mit Gassi, bis er schließlich verschwand. Lange haben wir an dem Abend noch Ausschau gehalten nach ihm. In der Nacht kamen Wolkenbrüche vom Himmel, an manchen Stellen fiel Hagel knöchelhoch, aber Lukes Gästeplätzchen blieb leer :( . Auch am nächsten Morgen blieb er verschwunden.

Wir reisten ab, mit einem schlechten Gewissen, wie Jakob prophezeit hatte, und Trauer im Herzen. Auch nachträglich konnte ich für Luke bislang keine Hilfe über's Internet organisieren und so bleibt nur das kurzzeitig volle Bäuchlein und eine trockene Nacht, die wir ihm schenken konnten. Das ist so traurig und wird mir noch lange nachhängen.

 

Vor dieser Art Begegnung hatte ich die größte Angst gehabt vor unserer Reise nach Italien, wusste ich doch, dass sie höchstwahrscheinlich unvermeidlich sein würde und dass ich es kaum aushalten könnte, u.U. nicht helfen zu können. Dann ist es nochmal etwas anderes, ob man aus der Ferne scheue streuende Hunde, womöglich ein ganzes Rudel sieht oder ob ein einzelner, deutlich hilfsbedürftiger Hund einen anschaut und direkt mit einem Kontakt aufnimmt.

Manche sagen uns: "Aber es sind so viele, die Hilfe benötigen, man kann gar nicht allen helfen!"

Aber ist das ein Argument, um dem einen nicht zu helfen?

 

Vielleicht kennt Ihr die Geschichte von den Seesternen? Ein Klassiker im Tierschutz. Sie ist wunderschön und deshalb möchte ich hier mit ihr enden:

Es war einmal ein alter Mann, der jeden Morgen einen Spaziergang am Meeresstrand machte.
Eines Tages sah er einen kleinen Jungen, der vorsichtig etwas aufhob und ins Meer warf. Er rief: "Guten Morgen, was machst Du da?" Der Junge richtete sich auf und antwortete: "Ich werfe Seesterne ins Meer zurück. Es ist Ebbe, und die Sonne brennt herunter. Wenn ich es nicht tue, dann sterben sie." "Aber, junger Mann", erwiderte der alte Mann, "ist dir eigentlich klar, dass hier Kilometer um Kilometer Strand ist. Und überall liegen Seesterne. Du kannst unmöglich alle retten, das macht doch keinen Sinn."
Der Junge hörte höflich zu, bückte sich, nahm einen anderen Seestern auf und warf ihn lächelnd ins Meer. "Aber für diesen macht es Sinn!"
Nach der Erzählung "The Star Thrower" von Loren Eiseley (1969)

 

 

Lieber kleiner Luke, wahrscheinlich werden wir nie erfahren, wie es dir weiter ergangen ist und allein der Gedanke ist schon schlimm, die Vermutung, wie es wohl wirklich sein wird, noch viel schlimmer. Ich sehe  noch deinen von der Straße gezeichneten Körper, deinen sanften Blick, spüre deine Pfote auf meinem Arm und hoffe, ja hoffe von ganzem Herzen, dass es Dir gelingt, das Herz eines weiteren Menschen zu berühren, dem es möglich ist, dir Sicherheit und Glück zu bieten.

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