Manchmal braucht es Weichen im Leben...

... um eine Abfahrt nehmen zu können. Ein kleiner Hinweis des Schicksals reicht nicht immer, besonders wenn man gewohnt ist, sich in vorgegebenen Bahnen zu bewegen und die Vorstellung dessen, was möglich sein könnte, auch gar nicht weiter reicht als bis an den Rand der Trasse. Manchmal müssen dann eine oder gar mehrere Weichen im Leben her, am besten aus massivem Stahl ;) 

 

Bei uns gab es in den letzten 12 Monaten enorm viele Entwicklungen in der Familie, die jede für sich genommen, sehr intensiv waren, teilweise so intensiv, dass sie eine Auszeit erzwangen und ich dachte: "Das schaffen wir nie!" Und immer kam noch eins drauf und immer ging es irgendwie doch. Immer ein Stückchen weiter, wenn auch manchmal in eine völlig unvorhergesehene Richtung. Und da sind wir jetzt gerade :) .

 

Nachdem ich im Sommer 2014  endlich dazu gekommen war, Schritt für Schritt meinen seit 2011 geplanten Hundephysiotherapie-Praxisraum ausbauen zu lassen, meine Webseite aufzubauen und endlich beruflich zu starten, kam leider direkt nach meinem ersten richtigen Patienten, der in mir ein echtes Hochgefühl auslöste, der Zusammenbruch. Die gesundheitlichen Beschwerden, die mich seit Jahren begleitet und ausgebremst hatten, hatten sich in solche Höhen summiert, dass ich sie nicht mehr wegdenken und mental überwinden konnte: Stetig zunehmender Schwindel, Sehstörungen, Herzrhythmus- und Atemprobleme, Koordinationsschwierigkeiten in den Händen und Stabilitätsprobleme in den Beinen machten mir zu schaffen, nächtliche Spastiken in Rücken und Beinen ließen kaum noch Schlaf zu. Ich konnte aufgrund von Sehverarbeitungsstörungen nicht mehr Auto fahren, bei Spaziergängen mit den Hunden knickten mir die Beine weg, so dass ich mich im Dreck sitzend wieder fand und die Erschöpfung war derart angewachsen, dass ich nach einer Stunde Hundegang den Rest des Tages liegen musste. Mitunter konnte ich Texten oder Gesprächen nicht mehr folgen, keine neuen Informationen mehr aufnehmen oder hatte Probleme, einen begonnenen Satz zu einem sinnvollen Ende zu bringen. Dies war auch für etwaige Gesprächspartner eine äußerst irritierende Erfahrung. Nach dem überhaupt nicht ergiebigen Ärztemarathon in den vergangenen Jahren erinnerten sich in dieser echt schwierigen und zum Teil auch verstörenden Zeit zu meinem großen Glück letztendlich meine Eltern an eine Borreliose vor 21 Jahren, die ich von einer Reise nach Polen mitgebracht hatte. Die Informationen, die sie im Internet fanden, enthielten Symptomlisten, in denen ich meinen Zustand komplett wieder fand - chronische Borreliose, eine heimtückische Krankheit, über die noch viel zu wenig bekannt ist und über die sich auch die Medizinier völlig uneins sind. Endlich konnte im Januar 2015 nach dem Wechsel zu einem erfahrenen Arzt eine intensive antibiotische Therapie beginnen, die langsam, langsam erste Besserungen brachte.

 

Zur ziemlich gleichen Zeit begann mit Jankos Entscheidung, die Schule verlassen zu wollen, eine intensive Beschäftigung mit Lernkonzepten und schließlich mit homeschooling bzw. darauffolgend dem selbstbestimmten freien Lernen. Zunächst waren nur Janko und ich da involviert, doch nach der Lektüre einiger Internetseiten, die er mir gezeigt hatte, und weiterführend einer ganzen Batterie an Büchern, die ich mir nach und nach bestellte und las, wenn es mir möglich war, mussten wir dringlichst auch meinen Mann einbinden. Denn mir fiel es irgendwann wie Schuppen von den Augen: Das, was ich dort las über den natürlichen Drang, zu lernen, wenn dieser nicht zerstört wird, der Effektivität von freiem Lernen, dagegen den schier endlosen Tagen im Schulgebäude, die manchmal einfach nur abgesessen werden - das alles kam mir so leidvoll bekannt vor aus meiner eigenen Schulerfahrung wie auch aus der meiner Kinder. Das Paradoxe der Situation, dass Schreibtischtäter darüber entscheiden, wann welche Lerninhalte für alle Kinder einer bestimmten Altersklasse unbedingt notwendig seien, um sie ausreichend aufs Leben vorzubereiten, dass aber gleichzeitig die Kinder aus dem Leben raus gesammelt und in Räume gepfercht werden, um dort "fürs Leben zu lernen", den eigenen Erfahrungen, dass man nur einen Bruchteil von dem, was in immerhin bis zu 13 Schuljahren verabreicht wird, behält und verwendet später, dass aber das, was man wirklich braucht, selbst und freiwillig gelernt wurde - all dies schien mir eine Lösung zu sein für die Probleme, die in unserer aktuellen Schulsituation bestanden. Ob wir mit diesem Ansatz einen gangbaren Weg für unsere Familie finden könnten, das bliebe abzuwarten.

 

Durch meine Krankheit hatte ich genügend Zeit, mich in das Gebiet zu vertiefen - alles hat halt immer seine zwei Seiten - ohne die neuen privaten Inspirationen wäre ich wohl wegen der abrupten Ausbremsung meiner beruflichen Perspektive in ein tiefes seelisches Loch gefallen. Leicht war es trotzdem nicht, interessierte Hundebesitzer an Kolleginnen verweisen zu müssen, aber für mich war die Lernsituation meiner Kids nun in die erste Reihe gerückt und hatte Priorität.

 

Es wurde ziemlich schnell klar, dass wir in Deutschland das freie Lernen wohl nicht verwirklichen können würden, da es einen Schulzwang gibt und Kinder und Eltern, die diesem nicht entsprechen wollen, schnell kriminalisiert werden. Bußgelder, Schulzwangszuführungen, Gefängnisstrafen, Entzug von Sorgerecht - alles schon vorgekommen...

Was für eine arrogante Haltung des Staates - zu denken, eine künstlich geschaffene Institution besäße den einzig wahren Zugang, um Kindern eine Zukunft zu geben!

Zumal das gar nicht gut funktioniert, wie man aus der Pisa-Studie liest, aus dem dauernden Ruf nach Bildungsreformen erkennen kann und schlussendlich an der"theoretische(n) Erkenntnis, dass unser Bildungssystem zu viele Verlierer produziert" (Cem Özdemir in "DIE ZEIT" vom 1.April 2015, S. 63) dramatisch vor Augen geführt bekommt. Hier bliebe zunächst die Frage offen, ob die "Verlierer" nach staatlich-wirtschaftlichen Aspekten definiert werden oder aber dieser Ausdruck auf individuell-persönliche Lebensentwürfe abzielt - mir persönlich wäre das erstere sowas von schnurzepiep, wohingegen ich einer gesunden persönlichen Entwicklung beinahe alles zu Füßen legen würde. Ich habe aber das laue Gefühl, das sehen die Damen und Herren an den oberen Schreibtischen Deutschlands wesentlich anders.

 

Eine nächste Überlegung war für mich, nach Belgien zu ziehen. Die Arbeitsumgebung bliebe dieselbe, ebenso die soziale und familiäre Anbindung. Nicht weit von uns, eben 10 km entfernt über eine Ländergrenze hinweg, wäre freies Lernen möglich gewesen, doch scheute mein Mann den Aufwand eines Hausverkaufs, - neukaufs und Umzuges, und mit vier Hunden kann nicht wirklich einfach etwas vorübergehend angemietet werden. Während ich mich mit dem Gedanken vertraut zu machen suchte, dass ich also ein solch privates Lernprojekt irgendwie alleine mit den Kindern zu stemmen hätte, zumindest in der alltäglichen Organisation und Begleitung, stieß ich auf die Geschichten reisender Familien, deren Kinder frei und aus den täglichen Erlebnissen lernen dürfen. In diesem Moment kam die Idee "Wohnmobil" zum ersten Mal auf.

Wieder ein Paradoxon, denn ich konnte zu dieser Zeit krankheitsbedingt überhaupt nicht Auto fahren und hoffte nur, dass meine Behandlung überhaupt und rechtzeitig anschlagen würde. Das war über Wochen und Monate hinweg eine Zitterpartie und während ich fleißig meine Antibiotika schluckte, machte ich mich im Internet kundig über Wohnmobile. Schließlich hat alles auch wirklich geklappt, ein Schutzbrief sollte uns vor dem allerschlimmsten Stranden bewahren, falls es mit meiner Gesundheit wieder bergab gehen sollte, während wir unterwegs sind. (Der Gedanke, komplett allein verantwortlich zu sein, lastet immer mal wieder ziemlich schwer auf meinen Schultern und lässt auch Ängste aufkommen, die immer wieder neu überwunden sein wollen.)

 

Ich hatte zwischendurch trotz aller Kämpfe, Auseinandersetzungen und Frustrationen, die zu bestehen waren, trotz aller wieder verworfener Ideen und Neuanfängen in Überlegungen und Planungen, das Gefühl, als würde ganz allmählich Zahnrädchen in Zahnrädchen greifen und "das große Rad" ein Stückchen weiter voranbringen.

Wäre ich beruflich nicht gerade in diesem Moment durch die Erkrankung ausgebremst worden, sondern die Praxis wäre gut angelaufen, wie es schien, den Anfragen nach zu urteilen, wäre mir die Entscheidung, unser Zuhause zu verlassen, um den Kindern freies Lernen zu ermöglichen, sicher sehr schwer gefallen. Vielleicht hätte ich mich sogar außerstande gesehen, sie in der Weise zu treffen. Dann hätten sich vielleicht andere Wege ergeben, wer weiß? Aber so, wie es ist, ist es gut und wer weiß, wohin uns unser Weg morgen führen wird... Heute setzen wir jedenfalls Schrittchen vor Schrittchen (und uns immer wieder einfach auch mal in den Schatten oder die Sonne, je nach Lust und Laune, um zu verschnaufen, zu reflektieren und zu genießen.)

Mein beruflicher Wunsch ist es weiterhin, irgendwann hoffentlich körperlich doch wieder fähig zu sein zur Hundephysiotherapie, schließlich habe ich deren Grundlagen aus eigenem Antrieb und freiem Willen gelernt. :) Aber zunächst ist mir jetzt die Lernzeit meiner Kinder, die ich (noch) begleite, wichtiger, damit auch jeder von ihnen etwas finden kann, was sie/ihn so packt, dass es es wert ist, sich dahinein zu vertiefen.

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